VERLUST - STILLSTAND - BLINDFLUG - NORMALITÄT

Heike Kugelmann • 16. November 2025

7 Erkenntnisse über das Leben

Inhalt:

  1. Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden
  2. Mehr Geduld und Respekt im täglichen Miteinander
  3. Es gibt keinen Weg an der Trauer vorbei. Man muss sich ihr stellen.
  4. Nutze die Zeit...
  5. ...und suche das Gespräch, kläre die Dinge!
  6. Nichts gehört einem jemals wirklich!
  7. Schiebe nichts auf und lebe den Moment!

Sollte ich die letzten 18 Monate überschreiben so wären es die Worte aus der großgeschriebene Überschrift oben über dem Text: VERLUST - STILLSTAND - BLINDFLUG - NORMALITÄT, sollte ich die letzten 6 Wochen beschreiben, so wären es die leisen kleinen Worte, die unten in dem Kasten stehen.


In diesem Artikel geht es um den Verlust von Familienangehörigen. Wenn es Dir nicht gut geht damit, wenn es Dir vielleicht gerade ohnehin nicht gut geht und schon dieser Satz dich getriggert hat, dann überlege gut, ob du weiterlesen möchtest und / oder suche Dir Hilfe, zum Beispiel hier bei der Telefonseelsorge 0800/111 0 111 oder bei Menschen, die Dir nahe stehen und gut tun. Alles Gute für Dich.


Neuer Text

Stille - innenhalten - durchatmen -

Warum ich trotzdem weiterschreibe und das auch hier öffentlich auf meinem Blog, der sich doch eigentlich mit dem Thema Heiraten beschäftigt, erkläre ich Dir gerne. Weil es vielleicht Menschen in ähnlichen Situationen gibt, denen meine Geschichte helfen kann. Und weil dies hier ohnehin eher kein Hochzeitsblog ist. Im Grunde geht es bei allen meinen Projekten um Beziehungen zwischen Menschen. Ja, natürlich auch Menschen, die heiraten, zwischen Eltern oder Freunden, die das Paar überraschen, bei den Schals vielleicht auch um die Beziehung zu einem selbst, wenn sich jemand damit eine Freude macht, um Freunde, um unsere Liebsten, um besondere Momente

Es geht um Beziehungen, um Verbindungen um Familienbande und ganz sicher um viel Gefühl.


aufstehen -
weitergehen - verändert sein

Gefühle - davon hatte ich sehr viele in den vergangen 18 Monaten, leider viele traurige aber auch intensive und wichtige, auch schöne, für die ich dankbar bin. Möchtest Du mit mir auf diese Reise gehen und ein Thema streifen, das in unserer Gesellschaft immer so sehr mit Tabus belegt wird? Das Sterben von Menschen, die wir lieben. 


Meine beiden Eltern sind in den letzten 12 Monaten verstorben, beide an Krebs. Entschuldige bitte, das war jetzt ein harter, offener Einstieg. Beide waren davor schon pflegebedürftig aber sie haben sich tapfer gehalten. Rückblickend muss ich sagen - und das ist gleich die

erste Erkenntnis:
  Dass man das Leben nur rückwärts versteht aber eben vorwärts leben muss. 

Wir kennen diesen so unglaublich wahren Satz des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813 - 1855 „
Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“) rückblickend also muss ich sagen, dass sie beide so sehr tapfer waren und mutig. Und dass ich das zuvor nicht gesehen habe, weil ich sie nicht richtig wahrgenommen habe und im Nachhinein so viel mehr Verständnis für sie habe.


Und das ist schon die zweite Erkenntnis: Seien wir doch bitte alle freundlicher zu einandern, respektvoller:  Dass man älteren Menschen oft mit so viel Ungeduld begegnet, auch mit Unverständnis. Mehr Verständnis füreinander und mehr Respekt würde unserer Gesellschaft so gut tun. Wenn jene älteren Angehörigen uns verlassen haben, wird so vieles so klar, dass man sich wünscht, man hätte das alles schon vorher verstanden. Vorher begriffen, wie krank sie schon waren und wie tapfer sie trotz aller Hilfe und Pflegebedürftigkeit versuchten sich Eigenständigkeit und Würde zu bewahren. Es war zumindest mir nicht klar, dass ich sie dann doch so schnell verlieren würde. Diese traurige Wahrheit sagt einem übrigens auch keiner. Zumindest mir nicht. Auf der Station, auf der meiner Mutter 20 Tage lang lag … und starb … hat nie jemand mir mal die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: Ihre Mutter wird bald sterben. Ich saß dort stundenlang in der Ungewissheit wann sie entlassen werden würde und wie wir das dann stemmen könnten, als allen auf der Station sicher schon klar war, dass es kein Entlassen mehr geben würde. Aber schließlich wurden immer noch Untersuchungen gemacht, Medikamente verabreicht. Dachten die, dass mir der weitere Verlauf klar war - war es nicht! Und warum quälte man sie dann mit all diesen Untersuchungen. Erst als sie in der letzten Woche die Flüssigkeitszufuhr reduzierten und dann einstellten und wir entsprechende Papiere unterschrieben, dämmerte „es“ mir, begründet wurde nichts, ausgesprochen auch nicht. Trost? Fehlanzeige. Eine Woche lang warten auf den Tod, surreal. Aber vielleicht sollten wir erst nochmals kurz ein Stück in der Zeit zurückgehen. 



Lebenslinien und -Kreise

Weil ich weiß, dass diese Frage immer kommt: Ja, sie waren schon älter, meine Mutter 85 mein Vater kurz vor seinem 91. Geburtstag. Ja, das ist ein stolzes Alter, ja da darf man krank sein und auch sterben. Und dennoch macht es fassungslos, wenn es dann passiert.



Aber ich will hier nicht über Krankheitsverläufe sprechen, sondern über das Leben, seinen Wert, seine Bindungen und leider auch sein Ende. 


Der Tod meiner Mutter kam also überraschend und auch wieder nicht. Rückblickend muss ich sagen, hat sich ihr Zustand etwa ein Jahr lang verschlechtert. Ein Jahr indem die beiden immerhin noch ihre Hochzeitsreise wiederholten, 60 Jahre nach ihrem eigentlichen Honey Moon fuhren Sie im August 2024 nochmals mit einem kleinen Kreuzfahrtschiff ans Nordkap und in die Fjorde. Begleitet wurden sie von meiner Schwester und ihrem Mann, alleine wäre diese Reise gar nicht möglich gewesen. Danke an dieser Stelle Birgit und Hermann.


Vielleicht haben sie es so empfunden, dass sich hier der Lebenskreis geschlossen hat. So haben sie es mir zumindest beide versichert. Und dass es eine schöne Reise war. Vielleicht war es gut und richtig für sie. Ich habe nur wahrgenommen, dass sich beider Gesundheitszustand nach der Reise im August 2024 erheblich verschlechtert hat. So ist das manchmal mit dem Blickwinkel. Die Reise, auch wenn es nur 10 Tage waren, war vielleicht ein Höhepunkt in ihrem Altersleben, nochmals rauskommen, die zutiefst eindrucksvolle Natur erleben, Frieden zu finden, den Lebenskreis zu schließen. Es war ja ihre Entscheidung gewesen diese Reise anzutreten, selbstbestimmt also. Vielleicht, und ich möchte es gerne hoffen, haben sie das so erlebt. Heute zurückblickend denke ich es. Die Realität direkt nach der Reise war, dass sie beide entkräftet waren, sich in den letzten Tagen auf dem Schiff mit Corona infizierten und 14 Tage wirklich schwer krank zu Hause waren, teilweise nicht ansprechbar, bevor sich mein Vater im September 2024 endlich seiner Krebsdiagnose stellte und sehr schnell operiert wurde.


Die Vermutung auf Krebs hatte der sehr kluge Hausarzt schon seit fast einem Jahr gehabt, doch mein Vater hatte sich geweigert, zu Untersuchungen ins Krankenhaus zu gehen, die Verdrängung des Unausweichlichen. Als die Gewissheit im Raum stand, ging es Schlag auf Schlag. Meine Mutter stürzte Anfang Oktober, brach sich drei Rippen, war kurz im Krankenhaus, entließ sich wieder obwohl es ihr nicht gut ging. Gegen ihren Willen aber konnte man sie nicht dort behalten, obwohl sie so schwach war. Am 30. Oktober kam sie mit schweren inneren Blutungen im Magenbereich - keine Zusammenhang mit den gebrochenen Rippen -  wieder ins Krankenhaus und verstarb dort in der Nacht auf den 18 November 2024. Ich war in dieser Nacht bei ihr. So etwas trifft einen unvorbereitet. Auch wenn man es weiß, es kommen sieht, mein Geist konnte es nicht fassen, sich von der Mutter verabschieden zu müssen. Sie konnte nicht mehr Sprechen, ihre letzten Worte waren „hilf mir“ und so bat ich um Medikamente und erhielt von der jungen Nachtschwester, die die Morphiumspritzen setzte jene Nähe und Zwischenmenschlichkeit, die man sich in so einer Situation wünscht mit dem einen Satz „Ich weiß, wie weh das tut“, der Hand auf der Schulter und aufrichtiger Anteilnahme. Es war kein ruhiges Einschlafen, es war ein Kampf, es war wie eine Geburt rückwärts, als schälte sich die Seele in Schüben aus dem Körper, kaum zu ertragen, die Bilder verfolgen mich noch immer. Und trotzdem bin ich unendlich dankbar, dass ich in diesen Stunden an ihrer Seite war. Erst am Morgen wurde sie ruhiger, wir hielten unsere Hände, sie streichelte meine. Das war ihr letzter Gruß, für den ich so unendlich dankbar bin. Meine Mutter war eine starke Frau. Sie tröstete mich.


Und mein Vater? Er, der Macher, der die Familie immer angeführt hatte. Der Wirtschaftswunder-Unternehmer aus den sechziger Jahren, der so unendlich, so unermüdlich fleissig war. Er konnte es nicht glauben. Meine Tochter, seine Enkelin, auch eine starke Frau, holte ihn an jenem 18. November Zuhause ab und fuhr ihn ins Krankenhaus. „Unfassbar“ bekam an diesem Tag für mich eine neue Bedeutung. Mein Vater war sein Leben lang Athlet, Sportler, ich weiß nicht wie viele goldene Sportabzeichen er gemacht hat - 60?. Aber obwohl ihm dieses Verständnis für den Körper doch gegeben war, war der Tod keine Option. Dass meine Mutter im Sterben lag, hat er nicht gesehen, die Tage vorher, als es wirklich klar erkennbar war. Als es geschehen war, konnte er es nicht glauben. Und nichts war geklärt. Der Tod war nicht vorgesehen gewesen in diesem Lebensentwurf. In einem surrealen Spaziergang über einen tiefherbstlichen Friedhof suchten wir beiden zwei Tage später die Grabstelle aus. Für ihn, der ja selbst schwer krank war, die Chemo abgelehnt hatte, sicherlich mit dem Empfinden: „Dieser Platz ist auch für mich“. Momente in denen Worte schwer möglich sind, hilfesuchend in banalen Sätzen wie „Diese Baum hier nebenan ist wunderschön“ ihren Weg finden. Nüchtern betrachtet ist es tatsächlich ein wunderschöner Ort, ein sehr schöner Friedhof mit wundervollem Baumbestand. Diese Wahrnehmung kommt aber erst nach Monaten, wenn der Schmerz nachlässt. Erkenntnis Nummer drei  ist noch so ein Satz, den man schon oft gelesen hat: Es gibt keinen anderen Weg, den Schmerz und die Trauer zu verarbeiten, als Mitten hindurch. Ich kann das bestätigen. Jede Form von Flucht, hilft nicht, verzögert nur. Man muss sich der Situation stellen.


Nutze die Zeit...

Nach dem Tod meiner Mutter, begann mein Vater zu schwinden. Bis Weihnachten hielt er sich tapfer, oft jedoch überwältigt von Schmerz. Wir saßen oft gemeinsam schweigend am Grab, mit einer Decke über den Beinen. Momente der Nähe, die ich so mit ihm Jahrzehnte nicht gekannt habe und für die ich dankbar bin. Erkenntnis Nummer vier, lieber Leser, „Nutze die Zeit“. Vielleicht brichst Du hier ab, legst das Gerät auf dem gelesen hast lieber weg, sprichst lieber mit den Menschen in deinem Leben als meine Reise zu teilen. Vielleicht kommst Du irgendwann wieder und liest diesen Bericht zu Ende.
Denn er hat tatsächlich ein unerwartetes, kleines fast schon Happy End... man sollte es nicht glauben!


Ein letztes Weihnachten, ein letztes Wiener Neujahrskonzert, das meine Eltern immer so gerne im Fernsehen angeschaut haben. Ich fahre extra zu ihm an diesem Neujahrsmorgen, damit er es nicht alleine anschauen muss. Wir versichern uns gegenseitig, dass meine Mutter, die Blumendekoration geliebt hätte. Ich bin dankbar bei ihm gewesen zu sein in diesem Moment. Im Februar und März Krankenhausaufenthalte für ihn. Wieder dieses Schweigen der Ärzte. Vielleicht darf man ihnen keinen Vorwurf machen, vielleicht können sie auch nicht immer die Hoffnungen der Angehörigen zerstören. Mir wäre mehr Ehrlichkeit lieber gewesen. Dann der Wunsch meines Vaters, nachhausekehren zu dürfen. Vier Wochen - die uns noch gemeinsam bleiben. In denen Sprachlosigkeit überwiegt und wir wichtige Dinge nicht mehr besprechen, vielleicht weil doch alles gesagt ist, vielleicht weil uns die Kraft fehlt. Erkenntnis Nummer fünf: Suche das Gespräch, auch wenn es so schwierig ist. Stelle die Fragen, finde die Klarheit und fordere sie ein, auch wenn es schwierig ist. Die Beziehung zu meinen Vater war komplex. Er stirbt am 7.April 2025. Wieder halte ich die Hand eines sterbenden Elternteils. 




Ich war auf diese Momente nicht vorbereitet. Aber ich habe kürzlich gesehen, dass es in unserer Stadt, Böblingen, ein Angebot eines Paliativ-Teams gibt, das sich "Letzte Hilfe" nennt. Ich kann das Programm nicht beurteilen, aber falls Du Dich in dieser Situation befindest, schaue ob es solche Angebote in deiner Stadt gibt und ob Dir das hilft. Wir hatten auch ein Paliativ-Team an unserer Seite. Die Erfahrung war leider nicht so gut. Sie haben uns mit den notwendigen Medikamenten versorgt, ansonsten war alles sehr unpersönlich und übersachlich.  Am letzten Morgen im Leben meines Vaters warf die Schwester, sie war tatsächlich sogar Ordensschwester, einen kurzen Blick auf ihn und meinte nach einem Check in ihren Unterlagen: "Also, ich hab´ ihn morgen noch auf der Liste, aber ich glaub' nicht, dass ich nochmal kommen muss." So ein Satz verhallt dann mit tausend Echos im Raum. Abends um 21:00 war er verstorben.


Was ich Dir gerne und vollkommen ohne Hintergedanken und natürlich anonym und vollkommen unentgeltlich anbiete, wenn Du in dieser Situation bist, dass wir kurz telefonieren können. Ich bin aber natürlich keine Seelsorgerin und auch keine Psychologin. Ich kann Dir nur meine Erfahrung mitgeben und Dir zuhören. Denn das - auch das eine Erfahrung - machen nur sehr wenige Menschen.


Nach dem Tod meines Vaters steht meine Welt steht still. Ich bin überwältigt von all dem, wie schnell das alles ging. Ich bin wie erstarrt. Ich muss mir nicht vorwerfen lassen, ich hätte nicht weggeduckt, nein, ich bin mitten hindurch gegangen. Wieder funktionieren im Blindflug, wieder eine Beerdigung organisieren. Und dann die vielen vielen administrativen Dinge klären. Gespräche mit meiner Schwester. Gemeinsam melden wir die zwei Firmen unserer Eltern ab, ihr Lebenswerk, das sie vorher nicht loslassen konnten. Sie waren sehr veränderungsresistent. Alles musste immer so bleiben, wie es war, auch wenn es wirtschaftlich keinen Sinn mehr machte. Und dann das Haus, unser Zuhause. Und mehr als das. Denn meine beiden Eltern waren typische Vertreter der Geschichte dieses Landes. Beides bitterarme Kriegskinder, er Jahrgang 1934, sie 1939, ihre Familien geflohen - mein Vater - ausgebombt - meine Mutter. Sie hatten die damals üblichen verkürzten Schul- und Fachhochschulabschlüsse gemacht und sich dann in die Arbeit gestürzt und waren in den Wirtschaftswunderzeiten sehr erfolgreich geworden. Mein Vater im Ingenieurbereich, meine Mutter mit einer Galerie. Sie hatte nach ihrer Schneiderlehre Kunstgeschichte und Modedesign an der Fachhochschule in Hannover studiert und auch einige Jahre in diesem Beruf in einem Modehaus in Stuttgart gearbeitet. Für uns Kinder machte sie sich dann mit einer kleinen Galerie selbständig um besser von Zuhause aus arbeiten zu können. Beide Firmen waren im unserem Zuhause, ein großes 70er Jahren Haus, in das sie einzogen, als wir Kinder schon etwas größer waren. Das Ingenieurbüro im Dachgeschoss, die Galerie im Untergeschoss. Warum schreibe ich das? Weil meine Schwester und ich uns sehr schnell einig waren, dass das Haus verkauft werden sollte. Weil wir beide ein eigenes Zuhause und Leben haben. Doch zuerst mal war es unmöglich irgendetwas an diesem so liebevoll eingerichteten Zuhause zu verändern. Von meiner Mutter mit ihrem großen Stilempfinden so wunderbar gestaltet und zusammengestellt. Jede Ecke war wunderschön. Das war nicht nur ein Haus, das war das liebevoll von meiner Mutter eingerichtete Museum ihres Lebens, kuratiert wie eine Ausstellung. 


Meine Eltern waren Sammler, das ist wohl so ein Phänomen dieser Kriegsgeneration, glaube ich. Das Zusammentragen und Sammeln von Gegenständen. Mein Vater hatte eine zutiefst traumatische Kriegskindheit. Der Ukrainekrieg und die Tatsache, dass Deutschland sich auf ein Mal wieder mit seiner Verteidigungsfähigkeit beschäftigt hat, hat ihn im Hinblick auf seine eigenen Enkelkinder aber auch auf die ganze Generation unendlich traurig gemacht. Er hat das in den letzten Wochen so oft gesagt, was für hohe Werte Frieden und Demokratie seien, dass wir und auch die Politiker doch alle gar nicht wüssten, wie grauenhaft Krieg sei. 



Nichts gehört einem jemals wirklich!

Doch zurück zum Haus. Und hier kommt Erkenntnis Nenner sechs. Nichts gehört einem jemals wirklich, es sind die Menschen, die unser Leben bereichern, nicht die Dinge.

Angesichts all dieser angehäuften Dinge, trifft mich das mit großer Klarheit. Das Haus war also bis unter die Decke voll, drei Dachböden, drei Keller, eine große Garage, viele Zimmer. Am Ende, ist das alles so unwichtig. Dieser ganze Besitz ohne die Besitzer nur noch angehäuftes Zeug, zu viele Gläser, zu viel Porzellan, zu viele Bücher. Und dann musste ich eine Erfahrung machen, von der ich nicht zuvor nicht geglaubt hätte, dass sie mich in dieser Form erschöpfen würde. Dieses Zuhause zu zerstören, war unglaublich belastend. Ich fing ganz langsam an, etwa 10 Wochen nach dem Tod meines Vaters, in einem unpersönlichen Büroraum im Obergeschoss und hatte den Plan mich von oben nach unten durchzuarbeiten. Ich begann also mit belanglosen Geschäftsordnern, die zu sichten waren, bevor man sie in die Dokumentenvernichtung gab - wir suchten noch ein paar Unterlagen, weshalb wir nicht einfach wahllos wegwerfen konnten. Aber auch aus Respekt vor der Lebensleistung meiner Eltern wäre mir das pure Wegwerfen schwergefallen.


Schon im zweiten Ordner Bilder meiner Eltern bei einer Firmenweihnachtsfeier. Sie so jung, so glücklich, so voller Esprit und Zuversicht… und so ging es immer weiter. In jedem dieser etwa 50 Ordner zwischen Geschäftsunterlagen auch persönliche Erinnerungen, Briefe, Fotos ihre Handschrift. Dann die Skizzen, die meine Mutter für das Logo ihrer Galerie gemacht hatte, der auf der Rückseite einer Rechnung handschriftlich geschriebene Entwurf für den ersten Zeitungsartikel, dahinter der vergilbte Artikel, wortwörtlich so gedruckt von 1975. In jedem Ordner Erinnerungen, viele unerwartet. Meine Eltern hatten ein sehr erfülltes und ereignisreiches Leben. Sie waren unglaublich fleißig, kreativ, umtriebig, sie durften viel Schönes erleben, haben das Leben genossen und wirklich unglaublich hart gearbeitet. So durch die Jahre, die Jahrzehnte zu „fliegen“ hatte etwas Versöhnliches und mein Respekt vor ihrer Lebensleistung wuchs, oder veränderte sich. Natürlich hatte ich gewusst, dass sie erfolgreich gewesen waren. Aber besonders präsent waren natürlich die vergangen 15 - 20 Jahre, die von Krankheit und auch Altersstarrsinn gekennzeichnet gewesen waren, besonders bei meinem Vater. Er konnte leider schlecht anerkennen, dass meine Schwester und ich erwachsen waren und in unseren Bereichen selbst erfolgreich, das war für ihn nicht zugänglich. Die Lebensentwürfe zu anders.

Es kostete Zeit das alles zu sichten, Wochen, wir kamen viel zu langsam vorab, wenn das Haus im Herbst an den Markt sollte. Meine Schwester war viel unterwegs, hatte eigene Projekte so bin ich viel alleine im elterlichen Haus, ertrage schnell die Geräuschlosigkeit nicht mehr und höre nachdem ich zuerst in respektvoller Stille und leise gearbeitet hatte, die immer immer gleiche Playlist von Ed Sheeran, zuerst leise dann immer lauter werdend, ich brauche einen Taktgeber, es muss vorangehen, ich werde pragmatischer. AZIZAM! Dann ist endlich der erste Büroraum leer, dann der zweite…


Ich muss bei all dem auch daran denken, dass ich mich nicht völlig verliere. Gesundheitlich geht es mir nicht gut. Ende Juli sitze ich mir einer Panikattacke bei meinem Hausarzt, dem gleichen, der auch meine Eltern behandelte. Mein Blutdruck bei über 200. Ich habe den Begriff Panikattacke früher nicht ernst genommen und bei anderen belächelt. Der Arzt erklärte mir, dass mich die Situation so belaste, dass mein Körper quasi entscheidet, dass der Säbelzahntiger hinter mir stünde und das komplette Fluchtprogramm anwirft, obwohl ich eigentlich gerade an meinem Rechner sitze und triviale Mails bearbeitete. Ich bekomme Medikamente und räume dann weiter. Den ganzen Sommer hindurch. Ich verkaufe vieles und verschenke noch mehr über Kleinanzeigen. Es ist interessant, für alles und jedes findet sich ein Interessent, teilweise sehr nette Begegnungen. Die unfassbar umfangreiche Modesammlung meiner Mutter lagere ich ein. Sie wird in ein eigenes Vintage-Projekt übergehen, doch im Sommer habe ich dazu noch keine Kraft. Sie einfach wegzugeben? Unmöglich. Jedes Stück trägt so viele Erinnerungen, jede Jacke wie eine Umarmung, jede Handtasche tausend Geschichten. Meine Mutter und ich wir waren uns sehr nah. Meine eigene Familie sieht mich in diesen Monaten kaum. Ich komme abends völlig erschöpft, körperlich und vor allem mental nachhause, will nicht mehr reden. 


Irgendwann, drei gefüllte Container später, Ende September ist das Haus so ausreichend leer, dass Fotos gemacht werden können. Ein erster Meilenstein. Eine Reise, die mich verändert hat, ich bin unendlich erschöpft, funktioniere nur noch, habe meine Mitte verloren. Vielleicht hätte ich gerne mehr mehr Zeit für all das gehabt, aber meine Schwester wollte im Herbst mit dem Haus an den Markt. Und vielleicht ist es auch gut, dass in einem Sommer durchgezogen zu haben, ich muss schließlich irgendwann in mein eigenes Leben zurückfinden. 


Das waren meine letzten 18 Monate. Überwältigt von den Erlebnissen, fremdbestimmt durch Aufgaben, die unaufschiebbar waren, nur noch funktionierend, reagierend. Meine Firma lief nebenbei wie ein gut geöltes Uhrwerk, die Online/Shop spülten dankenswerter Weise in gewohnter Regelmäßigkeit die Aufträge herein, die ich in aller Schnelle abarbeitete, Routine, keine Zeit und Kraft für Experimente oder Kreativität. Die Schalmanufaktur seit drei Jahren geschlossen, weil für diese zeitaufwändigeren Bestellungen neben der Betreuung meiner Eltern einfach keine Kapazität gewesen wäre. Ein Projekt für 2026! Und meine Familie? Die ertrug es verständnisvoll, dass es die ewig gleichen Rezepte aus der Küche gab, auch hier Routine, meine Kinder funktionierten genau wie ich. Und während ich dankbar bin, dass ich mir all die Zeit genommen habe, um das Leben meiner Eltern im Schnelldurchlauf zu durchlaufen, alles, wirklich jeden Gegenstand in diesem großen Haus, in die Hand genommen zu haben, ist mir bewusst, dass ich hier Zuhause fast ein ganzes Jahr mit meinen Kindern verloren habe. Ich war einfach nicht da. Anfang Oktober sprach mein Mann ein Machtwort, zog mich raus, Schweiz, Berge, 38 Stunden nur. Mit dem Blick auf die Berge beginne ich diesen Blogartikel zu schreiben, fertig wird er erst 6 Wochen später. Die Stille bei einem frühmorgendlichen Spaziergang und die Kraft dieser Natur, da ist es als füge sich alles zusammen. Wie ein Puzzle. Und ich spüre Frieden und das Gefühl, es richtig und vielleicht auch gutgemacht zu haben. Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat und der Tod unausweichlich zum Leben gehört. Und  da ist auch ein ganz kleines bisschen der Anflug, dass ich an Stärke und Resilienz gewonnen habe, in diesem Jahr und auch ganz viel an an Demut und Dankbarkeit. Ich kann besser unterscheiden, was wirklich wichtig ist nach all diesen Erfahrungen und da ist eine letzte Erkenntnis:
Ein ganz normaler Tag ist ein Geschenk.

Und dann: Ein unendlich schöner Zufall...

Und dann war da noch der Glacier Express. Jener Schweizer Zug, der im Herbst nur noch einmal am Tag acht Stunden lang durch die Einsamkeit der Berge fährt. Mein Vater hatte immer damit fahren wollen, meiner Mutter war das immer zu beschwerlich gewesen. Wie das dann so häufig ist, mit den Dingen die man aufschiebt, irgendwann war es gesundheitlich nicht mehr möglich. Mein Mann hatte ihnen noch angeboten, sie zum Startpunkt nach St. Moritz zu fahren und am Endpunkt in Zermatt wieder abzuholen, er fährt gerne Auto, dieser Mann. Es kam aber nicht mehr dazu, sie hatten keine Kraft mehr. Und das ist Erkenntnis Nummer Sieben: Schiebt nichts auf. Macht die Reise! Besucht die Eltern, die Freunde, auch wenn es unbequem ist. Und wenn es für Dich wichtig ist, dann kauf' die Handtasche, auch wenn dabei auch immer Erkenntnis sechs gilt: "Sie gehört Dir nicht wirklich" aber du kannst den Moment genießen, und das, wofür sie vielleicht steht. 


Und dann stehen wir also an jenem 3. Oktober 2025, bei diesem Ausflug durch die Schweizer Berge, der einen Endpunkt in der Aufarbeitung des Lebens meiner Eltern bedeutet, irgendwo nach dem Furkapass in einer absoluten Einöde aus Fels und Stein, an einer sich gerade senkenden Schranke, weit und breit nichts, nur diese Schranke, keine anderen Autos, keine Menschen. Und gefahren kommt der Glacier Express, einmal am Tag. Was für ein Kreuzungspunkt zweier Linien. So unwahrscheinlich dort in diesem Moment zu stehen. Ich beginne zu weinen, Aber dann ist es gut, ich spüre keinen Vorwurf, sondern Frieden, als ob sie mir zuwinken würden und sagen, „es ist alles gut…“



Danke, dass Du mich auf dieser Reise begleitet hast und bis hierher gelesen hast. Vielleicht konnte ich Dir helfen, vielleicht Mut machen. Das würde mich freuen. Ich wünsche Dir alles Gute.

Danke an alle, die mich auf diesem Weg begleitet haben, ihr wart eine große Hilfe:
Mein Mann und meine Kinder.
Danke an Gabi für all deine Hilfe von Krankenbett bis Wertstoffhof, an Valentina und Elke, Nadine und Matthias, Pascale und Thomas, Christine und JP, Peter und Sabine und alle an meiner Seite, unsere lieben Nachbarn, auch an meine Trainer Andi und Ulli für euer Verständnis.

Warum ich das hier mit den Bildern von unserer Bergtour unterlegt habe? Weil mich der Blick auf Berge beruhigt und sie so viel Beständigkeit, Kraft und Stille ausstrahlen.


Blogartikel #18 "Verlust - Stillstand - Blindflug - Normalität", erstveröffenlicht am 16.11.2025



Hast Du ähnliche Erfahrungen gemacht? Hat Dir mein Bericht geholfen? Gab es auch bei Dir einen Glacier-Express-Moment? Ich würde mich freuen, wenn Du ihn mit mir teilst. Danke!

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